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Umstrittener Ronaldo: Staatsaffäre wegen seines Gewichts
Ungenierter hatten sich nur die Nigerianer 1998 in die Rolle des WM-Favoriten gedrängt, die meinten, allein die Götter könnten sie stoppen. Doch der Spielplan schickte ihnen die Laudrup-Brüder aus Dänemark, und es war vorbei mit dem Ballzauber. Der Unterschied zum heutigen Favoriten besteht darin, dass es zum Selbstverständnis eines jeden brasilianischen Anhängers gehört, anzunehmen, der WM-Titel gehöre des Gewohnheitsrechts wegen ihnen. Niederlagen werden als ärgerliche Betriebsunfälle empfunden, die jene Ausnahmen darstellen, die die Regel bestätigen.
Doch Parreira weiß, dass die Dinge schon günstiger standen, dass die Kritik des Musterknaben Kaká am welken Auftritt gegen Kroatien auf solidem Fundament steht und dass er Probleme haben wird, seinen Lieblingsschüler weiterhin im Team zu halten: Ronaldo, den ranghöchsten Säulenheiligen des brasilianischen Fußballs nach Pelé und Garrincha. Und weil Fußball ein Spiel ist, das die Phantasie anregt, reden sie nicht nur im Land des Rekordweltmeisters (fünf Titel) gern in Metaphern über den Stürmer von Real Madrid.
Jorge Valdano, der zwar Argentinier ist, Ronaldo aber durch seine Zeit als Sportdirektor bei Real Madrid sehr gut kennt, verglich ihn einmal mit einer ganzen Büffelherde, wenn er zum Spurt ansetzt. Parreira selbst fand ein wunderbares Bild, das unfreiwillig präzise wirkte: Brasilien sei an dieser WM wie ein Lastwagen - man brauche erst ein paar Meter, um in Schwung zu kommen, doch dann laufe die Karre von ganz alleine, man müsse sie nur antippen.
Vielleicht hat er ja auch nur Ronaldo gemeint, ehedem der Solitär unter den Klunkern am Stürmerhimmel, ein Angreifer, der einmal kraftvoll und erlesen wirkte wie der Aston Martin des Weltfußballs. Und fällt es in diesen Tagen schon ungemein schwer, Parreira sein zu müssen, so gibt es bestimmt niemanden, der mit Ronaldo tauschen möchte.
Absurdistan liegt in Deutschland. Die Soap Opera mit dem ehemals schnellsten Dicken des Planeten (offizielles Kampfgewicht 82 Kilogramm) geht täglich in eine neue Runde. Es herrscht kein Mangel an Stoff, das Drehbuch schreibt sich selbst fort. Es kursiert sogar schon ein Witz über den Stürmer ohne Drang. "Was ist derzeit Ronaldos einzige Waffe? - Er ist zu langsam für das menschliche Auge."
Es geht beileibe nicht mehr nur ums Körperfett. Ronaldos Gesundheitszustand im Allgemeinen ist Anlass für Diskussionen. So bewahrheitete sich etwa das Gerücht, der 29-Jährige, habe über Schwindelgefühle geklagt. Ronaldo, mit acht Treffern bester Schütze der WM 2002, ließ sich in einer Klinik wegen Kreislaufproblemen untersuchen. Und weil er in seinem mächtigen Körper die Sehnsüchte eines ganzen Landes materialisiert, ist der Bauch inzwischen ein Politikum. Er lag im Clinch mit dem brasilianischen Präsidenten Lula da Silva, der sich selbst als ein Mann des Volkes sieht - eine Fehde, die die Heimat in Atem hielt.
Der Staatschef hatte sich bei Parreira nach Ronaldos Fitness erkundigt, was als Majestätsbeleidigung angesehen wurde, weswegen da Silva unterwürfig ein Fax schickte, in dem er um Verzeihung bat. Dann kam die Meldung, dass Ronaldo das Gnadengesuch des Präsidenten angenommen habe, nicht ohne sich zu revanchieren. "Es ist genauso eine Lüge, dass ich dick bin, wie es eine Lüge sein wird, dass er trinkt", sagte der dreimalige "Weltfußballer des Jahres" (1996, 1997 und 2002) in Anspielung auf jene Gerüchte, wonach der Präsident einen guten Tropfen mehr als nur zu schätzen weiß, was wiederum die Empfindlichkeit des umfänglichen Stürmers illustrierte, der zwar nicht mehr das ganze Land, aber doch den entscheidenden Mann hinter sich hat.
Denn Parreira wird ihn spielen lassen, und solange Ronaldo aufläuft, werden nur wenige über die Leistung Adrianos reden, der den Eindruck erweckt, vor lauter Kraft das Rennen verlernt zu haben. Parreiras Vertrauen in Ronaldo ist unerschütterlich. Denn er kennt die Irrationalität, die dessen Spiel innewohnt: Eine Drehung, ein Schuss, ein Tor - es kann so schnell gehen, und aus der dicken Plauze wird dann der göttliche Bauch. Schließlich geht es ja nicht nur um den Titel, sondern auch um die persönliche Eitelkeit des Angreifers, der in der ewigen Torschützenliste der WM in Lauerposition liegt: Es sind ja nur noch drei Treffer, und er wird den 14-Tore-Rekord jenes Mannes übertroffen haben, den sie in Deutschland "kleines, dickes Müller" nannten.

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Pub: 17 Sep 2023 17:59 UTC
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